Wenn eine kluge Stadt alle Talente braucht, sollte sie nicht die vorhandenen Perlen aus Ihrem Bildungsangebot streichen, weil diese nicht ins Raster passen.
Nach einer ersten Beschäftigung mit dem Rahmenkonzept zur hamburger Bildungsoffensive möchte ich stichwortartig festhalten, was mich heute beschäftigt hat.
Positives
- Dass nicht von den Finanzen aus auf den Bildungsbereich geschaut wird, was man wohl umsetzen könnte mit 2,50 € Pro Person finde ich sehr begrüßenswert. Offensichtlich ist man zur Raison gekommen, dass weniger die Deutsche Kohle oder unsere üppigen Ölreserven die Ressource der Zukunft darstellen, sondern die Bildung unserer Kinder.
- Die verbindlichen Lernentwicklungsgespräche (mind. 2 pro Halbjahr und Kind) nehmen den Überraschungseffekt der Ganz- und Halbjahresnoten und bieten Platz für eine differenzierte Rückmeldung und vor allem Zeit, Lösungswege aufzuzeigen. Statt „setzen, 6“ kann man SuS aufzeigen, was sie konkret zur Verbesserung ihrer Note tun könnten.
Negatives
- Die Durchlässigkeit des Schulsystems wird extrem erschwert, was ich an der Realität vorbei geplant finde. Eltern müssen unter Umständen mehrmals in kurzer Zeit ihren Beruf und auch ihren Wohnort ändern, weswegen die Schulen mehr denn je eine Durchlässigkeit im Blick haben müssten. Profiloberstufe und der systematisch nicht geplante Wechsel zwischen Stadtteilschule und Gymnasium nehmen die Notwendigkeiten einer flexiblen Arbeitswelt nicht auf.
- Gute staatliche Schulen, die über Jahre ein Profil entwickelt haben, auf welches sie stolz sind und welches Eltern dazu animiert, ihre Kinder auf eine ganz bestimmte Schule zu schicken, verlieren Möglichkeiten, ihr Profil weiter zu behalten. Ein Beispiel dafür meine derzeitige Schule, das Albert-Schweitzer-Gymnasium, welches u.a. die musikalische Förderung ab Klasse 5 für besonders wichtig erachtet. Nun aber geraten insbesondere die Schulen, die nicht nach dem Vorbild der Max-Brauer-Schule funktionieren, in eine Verteidigungsposition ihrer Bildungsvorstellungen hinein, bei der ich bisher die Legitimationsfrage gänzlich vermisse. Wer begründet, dass die eine Schulform einer anderen gegenüber besser ist?
Skepsis
Update: Ein Kollege wies mich auf einige Fehler hin, weswegen ich nun meine Berechnung vollkommen neu aufgebaut habe.
Ich hab die unter „Positives“ genannten verbindlichen Lernentwicklungsgespräche einmal versucht durchzurechnen, da ich die Idee für äußerst unterstützenswert halte, jedoch hohe Skepsis habe, dass sie auch tatsächlich umgesetzt werden wird, da sie wirklich sehr hohe Kosten verursacht.
In allen Jahrgangsstufen finden mindestens zwei Lernentwicklungsgespräche statt, die jeweils in eine schriftliche Lernvereinbarung zwischen der Schülerin oder dem Schüler den Eltern und Lehrkräften münden. Grundlage dieser Gespräche ist die Dokumentation der individuellen Kompetenzentwicklung der Schülerin bzw. des Schülers. (Quelle: Rahmenkonzept, S. 14f)
Für ein solches Gespräch mit Eltern, SchülerInnen und Lehrkräften, wie es das Rahmenkonzept vorsieht, setze ich 10 Minuten Durchführung an. An einem solchen Gespräch sind typischerweise 3 LehrerInnen beteiligt, der/die KlassenlehrerIn oder TutorIn, ein Fachlehrer und ein Protokollant. Alle LehrerInnen jedoch haben die 10 Minuten Vor- und 10 Minuten Nachbereitung zu treffen, vor allem wenn sie die o.g. Kompetenzentwicklung dokumentieren sollen. Hinzu käme die bisher unberücksichtigte schriftliche Lernvereinbarung zwischen SchülerInnen, Eltern und Lehrkräften, die sicherlich auch mehr Zeit in Anspruch nimmt, in dieser Berechnung aber nicht weiter einfließen soll, da sie z.B. vom Protokollanten schon während des Gesprächs aufgeschrieben werden könnte. Für meine korrigierte Berechnung der Kosten durch Mehrarbeit werde ich nunmehr aus Schülersicht argumentieren. In Hamburg werden derzeit 182.000 SchülerInnen [Quelle] unterrichtet, d.h. wir hätten für diese Anzahl SchülerInnen in Hamburg allein durch ein Gespräch – ganz ohne Vor- und Nachbereitung durch die LehrerInnen – einen zusätzlichen Zeitbedarf von:
182.000 SuS * 20 Min. = 3.640.000 Min. = 60.666 Stunden Gesprächsbedarf
Nun sieht das Rahmenkonzept 2 Gespräche pro Halbjahr vor, d.h. 4 im ganzen Jahr, d.h. für ein Jahr insgesamt Gesprächsbedarf von:
3.640.000 Min. * 4 = 14.560.000 Min. = 242.667 Stunden
Nun zu der Zeit, die für die Vor- und Nachbereitung dieser Gespräche benötigt wird. Angenommen ein Schüler/eine Schülerin hat im Durchschnitt 8 Lehrer. Dann müssten diese 8 Lehrer jeweils 10 Minuten Vor- und 10 Min. Nachbereitung investieren, damit sie dem Klassenlehrer/der Klassenlehrerin die Kompetenzentwicklung mitteilen können und die getroffene Lernvereinbarung in ihrem Unterricht umsetzen können. D.h. in Hamburg muss nicht nur 182.000 mal ein Gespräch geführt werden, es muss auch 8 mal 182.000 mal 20 Minunten zur Vor- und Nachbereitung investiert werden.
(182.000 SuS * 8 LuL ) * 20 Min. * 4 = 116.480.000 Min. = 1.941.333 Stunden
(Der Faktor 4 ergibt sich wieder aus den vier Gesprächen pro Jahr.)
In Hamburg unterrichten derzeit 13.676 LehrerInnen [Quelle]. Die Jahresarbeitszeit eines Lehrers/einer Lehrerin beträgt bis zum 25. Dienstjahr 1.784 Stunden, ab dem 25 Lebensjahr 1.744 Stunden [Quelle]. Da ich hier die demografische Entwicklung nicht kenne, mittle ich die Jahresarbeitszeit auf 1.764 Stunden. Außerdem gehe ich in meiner Berechnung davon aus, dass alle LehrerInnen eine Vollzeitstelle haben. Dem ist sicher nicht so. Trotzdem gehe ich in meiner Berechnung davon aus, da immer wieder laut wird, es wären nicht alle notwendigen Lehrerstellen besetzt. Auch wenn es also nicht genau stimmt, könnte sich so diese Verzerrung ausgleichen. Ich wäre über genauere Zahlen an dieser Stelle glücklich, wenn Sie mit weiterhelfen können, schreiben Sie mit bitte eine E-Mail oder hinterlassen Sie einen Kommentar.
Durch die Aussage, es gäbe zu wenig LehrerInnen in Hamburg, komme ich zu meiner nächsten Annahme, dass es keine Luft in der Auslastung der Lehrerinnen und Lehrer gibt, für die Umsetzung dieser Idee also zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden müssten.
Versucht man also den errechnete Zeitaufwand durch Neueinstellung von LehrerInnen umzusetzen, müsste man einstellen:
( 242.667 Std. Gespräch + 1.941.333 Std. Vor-u.Nachber. ) / 1.764 Std. Jahresarbeit. = 1.238 LehrerInnen
Das heißt, dass schon die kleine Forderung 2 Lernstandsgespräche pro SuS und Halbjahr große Mehrkosten bedeuten, nämlich jährlich:
1.238 * 44.805,12 € = 55.468.739 €
(Die Angabe 44.805,12 € geht zurück auf die Kosten einer LehrerInnenstelle laut Angaben des Bundes der Steuerzahler. [Quelle])
Entgegen meiner ersten Berechnung, die aufgrund der reinen Orientierung an der Lehrerarbeitszeit fehleranfällig war, ist dies zwar ein deutlich geringerer Betrag, dennoch sollte meine Skepsis an der Umsetzung dieser Idee deutlich werden. Ich bin absolut für die Einführung so einer Lernvereinbarung, sie jedoch umzusetzen hat jedoch Konsequenzen, nämlich eine der folgenden:
- finanziell – da man bereit wäre, die 55 Mio Euro jeder Jahr mehr in die Schulbildung zu investieren
- für die Arbeitszeitbelastung der LehrerInnen – da sie den zeitlichen Mehraufwand ohne Stundenanrechnung durchführen müssten
- für die Qualität der Lehre – da die Lerninhalte hinter so einer Lern- und Leistungsrückmeldung zurückstecken müssten
Ich hoffe sehr, dass im Zuge der hamburger Bildungsoffensive die erste Konsequenz gezogen wird und auch nach Neuwahlen noch umgesetzt und nicht dahingehend revidiert wird, dass die Gespräche zwar beibehalten werden sollen, die 55 Mio Euro jedoch wieder abgezogen werden.
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